Der Samurai
 
und der Fuchs

Leseprobe 

"Der Samurai und der Fuchs"


 

Kapitel 1

  

Edo, Februar 1853

Die Küsse seiner nächtlichen Geliebten brannten noch auf Hijikata Toshizōs Lippen, während ihr Name bereits seinem Gedächtnis entwich wie die Nebelschwaden über den Hügeln von Tama, wenn die ersten Strahlen der frühen Morgensonne sie zärtlich berührten.

Obwohl ihm die Müdigkeit der durchwachten Nacht tief in den Knochen steckte und seine Muskeln beschwerte, schritt er schnell voran, hielt das Gesicht dem kühlen Wind entgegen, genoss den Geruch nach Tau, feuchtem Straßenstaub und Regen, der schwer in der Luft hing und seine Sinne allmählich belebte.  

Im Grunde war er nächtlicher Abenteuer wie diesem längst überdrüssig. Genauso überdrüssig wie seiner Arbeit als wandernder Arzneihändler oder des Daseins als Farmer. Was er suchte, war nicht in den Armen einer Frau zu finden, war vielleicht nirgendwo zu finden, und so ließ sich Hijikata vom Wind treiben wie die verwehten Kirschblüten im Frühjahr, lebte in den Tag hinein, in die Nacht hinein.
Der einzige feste Punkt in seinem Dasein, sein Leuchtfeuer in der Dunkelheit, war das Dōjō, das sein bester Freund Kat-chan einst erben würde.  

Das Shieikan lag ein Stück weit nordwestlich der Burg von Edo, in Ichigaya, und war keine der großen, berühmten Schwertkampfschulen Edos. Die meisten seiner Schüler entstammten einfachen Bauernfamilien aus dem Hügelland von Tama, genau wie Hijikata und der Freund selbst. Schon immer waren die Bauern von Tama ein besonderes Volk gewesen, dem Shōgun loyal ergeben und an Tapferkeit und Mut so manchem Samurai ebenbürtig. Viele von ihnen ließen ihre Söhne in der Schwertkunst unterrichten und sie waren stolz darauf, ihre Dörfer und ihr Zuhause selbst verteidigen zu können.  

So zog Kondō Shūsai, der Meister des Shieikan-Dōjōs, von Dorf zu Dorf und unterrichtete die Kinder reicher Bauern im Fechten. Auch in Kat-chans und Hijikatas Heimatdörfern hatte er Stunden gegeben, und auf diese Weise hatten sie beide den Meister – und später auch einander – kennengelernt.  

Von Kat-chans Fähigkeiten und seinem Charakter war der Meister sofort tief beeindruckt gewesen. Und dann, vor einigen Jahren, war Kat-chans Haus von einer finsteren Diebesbande überfallen worden. Kat-chan, damals erst fünfzehn Jahre alt, hatte das Gesindel gemeinsam mit seinen Brüdern in die Flucht geschlagen und sich dabei derart heldenhaft hervorgetan, dass sich die Geschichte in der ganzen Gegend so rasch verbreitete wie eine Feuersbrunst an trockenen Sommertagen. Auch dem Meister kam sie zu Ohren, und so geschah, was sich Jungen von Kat-chans Stand bisher nur in ihren kühnsten Träumen hätten ausmalen können: Der alternde Samurai, der selbst keinen Sohn hatte, adoptierte Kat-chan und machte ihn zum Erben seines Dōjōs. Aus Miyagawa Katsugorō, genannt Kat-chan, wurde Kondō Isami, künftiges Oberhaupt der Tennen Rishin-ryū Schwertschule und Meister des dazugehörigen Shieikan-Dōjōs.

Knapp vier Jahre war dies nun schon her.

Für Kat-chan war damals ein Traum in Erfüllung gegangen, der auch tief in Hijikatas Herzen brannte, für ihn jedoch so unerreichbar war wie der kalte, bleiche Mond, der in der langsam aufkeimenden Dämmerung allmählich verblasste.  

Kat-chan war nur ein Jahr älter als er selbst und hatte bereits so viel mehr erreicht. Und dennoch liebte Hijikata den Freund zu sehr, um Eifersucht oder gar Neid zu empfinden.  

Kat-chan – er sollte sich angewöhnen, ihn Kondō oder wenigstens Isami zu nennen – war der klügste, feinsinnigste und warmherzigste Mann, den Hijikata kannte, und er war sicher, irgendwann würde einer der größten und edelsten Samurai aus ihm werden, die dieses Land je gesehen hatte. Und wenn er, Hijikata Toshizō, Sohn eines Bauern aus Tama, in diesem Moment an der Seite seines Freundes stehen durfte, so wäre es für ihn das höchste Glück, das er sich je erträumen konnte.

Von solch hochtrabenden Gedanken erfüllt, erreichte er das Dōjō, und ein Lächeln schlich sich über seine Züge, als die vertrauten Konturen des Gebäudes vor ihm in der Morgendämmerung aufragten.

Es war kein besonders nobles Anwesen. Das Tor war schlicht und schmucklos, auf dem Dach des Haupthauses saßen einige Schindeln locker, und das Reispapier der Wände war an unzähligen Stellen geflickt und aus Kostengründen nicht erneuert worden.

Und doch … In Hijikata Toshizōs Augen war dieser Ort so vollkommen, als wäre er der Palast des Shōguns, und während er durch das Tor schritt und den Hof überquerte, fühlte es sich an, als betrete er eine fremde Welt und ließe all die Sorgen und Unzulänglichkeiten seines täglichen Lebens einfach draußen zurück.

Das Gefühl löste sich allerdings in Rauch auf, als sein Blick auf den Jungen fiel, der gerade dabei war, vor der Veranda des Wohnhauses einen Korb Wäsche aufzuhängen. Okita Sōjirō!  

Hijikata seufzte innerlich. Die kleine Kröte hatte ihm gerade noch gefehlt! Im Gegensatz zu Kondō und Hijikata entstammte Sōjirō einer Samurai-Familie. Wie Kondō und Hijikata hatte er seine Eltern früh verloren. Bis vor kurzem hatte er daher bei seiner älteren Schwester Mitsu und deren Ehemann gelebt, doch Mitsu war nun selbst schwanger und konnte – oder wollte – sich nicht mehr um den Kleinen kümmern. Einer der Schüler hier im Shieikan war ein entfernter Verwandter ihres Mannes, und so hatte sich Kondō Shūsai dazu bereiterklärt, den neunjährigen Waisenjungen in seinem Haus aufzunehmen.  

Angeblich war er einer der talentiertesten Schüler des Shieikan, Hijikata jedoch hatte ihn noch nie ein Schwert schwingen, geschweige denn an Kondōs Unterricht teilnehmen sehen. Alles, was der Junge tat, war Tee servieren, den Boden wischen und Wäsche waschen.  

Hijikata schüttelte sich vor Verachtung. Kondō hatte einen Narren an dem Kleinen gefressen und verhätschelte ihn wie ein Mädchen seine Lieblingspuppe, Hijikata jedoch sträubten sich die Nackenhaare, wenn er den Jungen nur ansah. Er wusste noch nicht einmal genau, woran es lag, doch der Kleine hatte etwas an sich, das Hijikata schaudern ließ.  

Vielleicht war es die Tatsache, dass er niemals lachte, niemals weinte und kaum je ein Wort von sich gab. Das schmale Gesicht des Jungen war leer wie das einer Statue, die großen, pechschwarzen Augen so unergründlich wie der Ozean. Viel zu tief und viel zu dunkel für die Augen eines Kindes.

»Hey, du kleiner Putzteufel!«, rief Hijikata übellaunig und noch während er die Worte aussprach, fühlte er, wie erbärmlich es war, ein Kind zu beleidigen, das neun Jahre jünger war als er selbst und offenbar kaum in der Lage, sich zu wehren.

Immerhin schien er mit der Beleidigung ins Schwarze zu treffen, denn der Kleine zuckte heftig zusammen und blickte von seiner Arbeit auf. Kein Muskel rührte sich in dem maskenhaften Gesicht, in den Augen jedoch blitzte einen Herzschlag lang ein Funke auf, Abglanz einer lodernden Glut, die sofort wieder hinter einem Ausdruck dunkler Leere verschwand.

Über Hijikatas Gesicht glitt ein Lächeln. Wenigstens war es ihm gelungen, den Hauch einer Reaktion in Sōjirō hervorzurufen. Der Junge war also nicht so kaltblütig, wie er tat, und beinahe erleichterte dies Hijikata.

»Toshi!«  

Abrupt drehte Hijikata sich um, als er Kondōs vertraute Stimme hinter sich hörte. Der Freund begrüßte ihn mit einem herzlichen Lächeln, und sofort vergaß Hijikata den Jungen, der sich mittlerweile wieder seiner Arbeit widmete, und das mit einer Hingabe und Konzentration, als gelte es, ein Kunstwerk zu vollenden.

»Du solltest Sōjirō-chan nicht immer so ärgern«, bemerkte Kondō sanft, während sie sich gemeinsam ein paar Schritte entfernten. »Er hatte es schwer. Seine Familie ist so arm, dass sie ihn kaum ernähren konnte. Seine Schwester kann nicht mehr für ihn sorgen. Er hat niemanden außer mich. Und für mich ist er wie der kleine Bruder, den ich mir immer gewünscht habe.« Ein sonderbar weicher Ausdruck glitt über Kondōs Gesicht. »Und du, Toshi, du bist mein bester Freund. Es schmerzt mich zu sehen, dass zwei Menschen, die mir so viel bedeuten, einander nicht leiden können. Bitte versuche, freundlicher zu ihm zu sein.«

Der sanfte Tadel in diesen Worten gab Hijikata einen Stich, machte ihm noch deutlicher bewusst, wie albern er sich benahm.

»Verzeih mir«, entgegnete er aufrichtig und senkte ein wenig den Kopf dabei. »Es ist nur … Der Junge hat etwas an sich, das …« Er ließ die Worte in der Luft schweben und zu Boden fallen. »Ist er nicht das Kind eines Samurai?«, fragte er stattdessen. »Warum benimmt er sich dann nicht so? Warum tut er nichts außer putzen und waschen, als wäre er ein Dienstbote?«

Ein bekümmerter Ausdruck verfinsterte Kondōs Gesicht. »Weil er genau das ist«, entgegnete er traurig. »Seine Familie kann das Schulgeld nicht bezahlen. Mein Vater hat ihn aus Gutmütigkeit in seinem Haus aufgenommen, aber Mutter ist der Meinung, er müsse, wenn er hier umsonst wohnen und essen will, wenigstens dafür arbeiten. Also lässt sie ihn arbeiten, hart arbeiten.« Voll Mitgefühl und Schuldbewusstsein senkte er den Blick.

»Warum trainierst du ihn nicht in der Schwertkunst?«, fragte Hijikata, denn er hatte Sōjirō noch nie mit den anderen Schülern in der Halle gesehen. »Sollte ein Samurai-Kind nicht fechten lernen, wenn es schon in einem Dōjō wohnt?«

Ein mildes Lächeln glitt über Kondōs Lippen. »Oh, er trainiert durchaus. Nur eben nicht mit den anderen. Aber ich weiß, er sieht genau zu, wenn ich unterrichte. Nachts, wenn er glaubt, niemand würde es bemerken, schleicht er sich dann heimlich ins Dōjō und übt für sich allein. Und durch die harte Arbeit ist er schon viel kräftiger geworden als zuvor, das kommt seinem Training zugute.«

»Er übt für sich allein?«, hakte Hijikata ungläubig nach. »Wieso das denn? Ist er so schlecht, dein kleiner Bruder?« Hijikata kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Oder ist er einfach nur feige?«, fügte er böse hinzu.

Neulich, da hatte er beobachtet, wie die älteren Schüler Sōjirō geärgert und verspottet hatten. Der Junge hatte nicht einmal versucht, sich zu wehren. Er hatte es sich gefallen lassen wie ein unterwürfiger Hund.

Hijikata schnaubte verächtlich.

Kondō hingegen zuckte unter Hijikatas Hohn heftig zusammen. »Nein«, entgegnete er mit einem Ausdruck von Schmerz in den Augen, der Hijikata einen erneuten Stich versetzte. »Nein, er ist weder feige noch schlecht. Das ist er ganz und gar nicht.«

Hijikata presste die Kiefer aufeinander, bis die Knochen knackten. Er hatte sich in Rage geredet, und die gemeinen Worte waren ihm entschlüpft, ohne dass er darüber nachgedacht hatte. Aber sie hatten nicht Sōjirō verletzt, sondern Kondō.

Reumütig senkte Hijikata den Blick, unfähig, die Pfeile zurückzuholen, die er bereits verschossen hatte. Warum nur machte dieser Junge ihn so wütend? So wütend, dass er seine Zunge nicht mehr im Zaum halten konnte und dabei sogar seinen besten Freund vor den Kopf stieß?

Weil der Junge ein Samurai ist …, flüsterte eine Stimme in seinem Inneren, die Hijikata nicht hören wollte, denn er wusste, dass sie die Wahrheit sprach.

Sōjirō war das Kind eines Samurai und damit all das, was Hijikata niemals sein durfte. Aber Sōjirō wusste dieses Privileg noch nicht einmal zu schätzen, warf es fort, als wäre es nichts. Und Hijikata konnte nicht anders, als den Jungen dafür aus tiefster Seele zu hassen.

»Er ist nicht feige«, wiederholte Kondō leise, und die Worte erreichten kaum Hijikatas Bewusstsein. »Der Geist des Kriegers ist stark in ihm, er schlummert bloß. Und es ist Sōjirō-chans eigene Entscheidung, wann er ihn erwachen lässt. Ich werde das respektieren. Und du solltest das auch tun.« Wieder verbarg sich der Tadel hinter einem sanften Lächeln, und wieder gab er Hijikata einen tiefen Stich in die Brust.

»Sieh, ich will dir etwas zeigen«, bemerkte Kondō in verändertem Tonfall und lenkte Hijikatas Aufmerksamkeit wieder in die Richtung des Jungen, der mittlerweile mit der Wäsche fertig war und begonnen hatte, die Veranda zu schrubben.

Für einen Moment versuchte er, Sōjirō mit den Augen seines Freundes zu betrachten, versuchte zu erkennen, was dieser in ihm sah. Doch er selbst erblickte nur ein Kind mit dem leeren Gesicht einer Puppe und den Augen eines wilden Tieres, hoch gewachsen für sein Alter und dabei so dürr, als könne er beim nächsten Windhauch einfach auseinanderbrechen.

»Sieh dir seine Bewegungen an«, flüsterte Kondō, dicht an seiner Seite. »Zielgerichtet, kraftvoll und geschmeidig wie die einer Katze. Er mag im Moment aussehen, als würde er gedankenverloren vor sich hinträumen, aber in Wahrheit ist er stets wachsam, angespannt und hoch konzentriert. Pass auf!«

Schnell trat er unter den Pflaumenbaum im Garten, wo noch ein wenig Schnee lag, nahm eine Handvoll davon vom Boden auf, formte daraus eine Kugel und schleuderte sie ohne jede Vorwarnung in Richtung des Jungen.

Hijikata riss vor Schreck die Augen auf, Sōjirō jedoch reagierte mit überraschender Geistesgegenwart: Ohne auch nur hinzusehen, so als hätte er das Wurfgeschoss bereits aus der Ferne herannahen gespürt, hob er blitzschnell die Hand und fing den Schneeball sicher und präzise auf.

»Siehst du«, rief Kondō triumphierend. »Er hat die Instinkte eines Tigers! Er wird einmal ein fantastischer Schwertkämpfer werden!« Und, an Sōjirō gewandt, brüllte er: »Gut gemacht, Sōji!«

»Sōji?« Irritiert legte Hijikata die Stirn in Falten. »So nennst du ihn? Ich dachte, sein Name sei Sōjirō.«

Kondō zuckte mit den Schultern. »Dein Name ist Toshizō, und ich nenne dich Toshi. Also warum nicht?«

Das war es nicht, was Hijikata gemeint hatte. Sōji konnte auch Putzen bedeuten, eine bittere Ironie, die allerdings weder Kondō noch den Jungen zu stören schien. Für sie beide war es einfach nur ein liebevoller Spitzname, in den sie nichts Böses hineininterpretierten.

»Aber ich darf ihn nicht Putzteufel rufen«, grummelte Hijikata missmutig in sich hinein, was Kondō allerdings überhörte, denn der Freund schien ihn bereits völlig vergessen zu haben. Stattdessen trat er mit ein paar schnellen Schritten zu dem Jungen auf die Veranda und strich ihm stolz über das lange, zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengefasste Haar. Hijikata beobachtete verblüfft, wie eine geradezu frappierende Veränderung im Gesicht des Jungen vor sich ging. Über den eben noch vollkommen leeren, maskengleichen Zügen des Kindes breitete sich plötzlich ein Strahlen aus, als wäre die Sonne über einem schneebedeckten Hügel aufgegangen. Die dunklen Augen leuchteten, ja, sogar die Andeutung eines winzigen Lächelns zuckte über die vollen, puppenhaften Lippen.

Dieser Junge, das begriff Hijikata mit einem Mal, verehrte Kondō, als wäre er ein Gott. Würde das Schicksal es von ihm verlangen, er würde an Ort und Stelle für Kondō sein Leben geben, ohne auch nur einen Wimpernschlag zu zögern.

Und war es nicht genau das, was Hijikata selbst tief in seinem Innersten empfand?

Mit einem Mal fühlte er, wie sein Hass auf den Jungen erkaltete, und etwas Anderem Platz machte, für das er selbst keinen Namen fand. Doch als Kondō später mit ihm bei einer Schale Tee auf der Veranda saß und ihn erneut bat, freundlicher zu dem Kind zu sein, da nickte er, und diesmal meinte er es auch so.

 

***

 

Noch am selben Abend bekam Hijikata Gelegenheit, seinen Entschluss auf die Probe zu stellen. Kondō hatte ihn eingeladen, die Nacht in seinem Haus zu verbringen, und da Hijikata ohnehin wenig Leidenschaft für seine Arbeit als Medizinverkäufer empfand, war es ihm nur recht, die ungeliebte Tätigkeit um einen weiteren Tag hinauszuschieben.

Während Kondō im Dōjō einige Jungen aus der Nachbarschaft unterrichtete, streifte Hijikata ziellos durch den Garten des Hauses. Ein kühler Wind ließ die Äste der Walnussbäume erzittern und brachte den würzigen Geruch nach Regen mit sich. Fröstelnd richtete Hijikata den Blick dem sich verdunkelnden Himmel entgegen, beobachtete einen Moment lang die schweren Wolken, die über ihn hinwegzogen wie die Geister einer längst vergangenen Zeit. Er wollte sich gerade abwenden, als er bemerkte, dass an der Ecke des Hauses eine Schiebetür weit offenstand. In dem Raum dahinter kniete eine schmale Gestalt auf den Tatami-Matten und las, den Kopf gegen den Türrahmen gelehnt, in einem Buch. Sōjirō hatte kein Licht entzündet, und so verschwamm sein Körper mit den Schatten des ersterbenden Tages, als wäre er selbst ein Geschöpf der Dämmerung. Neben ihm lag ein rotweißes Fellknäuel zusammengerollt auf dem Boden, das Hijikata zunächst für eine Katze hielt. Als er jedoch langsam nähertrat, erkannte er erstaunt, dass es sich um ein Fuchs-Junges handelte.

Das Tier und der Junge bemerkten ihn im selben Moment, und obwohl Hijikata sicher war, kein Geräusch verursacht zu haben, hoben sie beide gleichzeitig den Kopf, und zwei gleichsam dunkle Augenpaare blickten ihm funkelnd entgegen.

Der Fuchs knurrte grollend, schoss wie ein roter Feuerblitz auf Hijikata zu und hielt dann mitten in der Bewegung inne, drohend die Zähne gebleckt.

»Was zur Hölle …« Erschrocken wich Hijikata einen halben Schritt zurück und tastete instinktiv nach dem Messer in seinem Gürtel. Der Fuchs reagierte mit einem schrillen Fauchen auf die Bewegung und spannte die Muskeln zum Sprung, kam aber nicht dazu, den Angriff zu Ende zu führen, denn Sōjirō war ihm mit einem einzigen, geschmeidigen Satz hinterhergejagt, fing ihn geschickt ein und presste ihn fest an sich. Der Fuchs hörte sofort auf zu knurren, das Zittern seiner Schnurrhaare jedoch zeugte deutlich von seiner Anspannung.

»Was ist das denn für ein Vieh?«, entfuhr es Hijikata ärgerlich.

»Das … das ist mein Fuchs«, stammelte Sōjirō mit einem Ausdruck entgeisterten Schreckens in den geweiteten Augen und warf sich, das Tier noch immer im Arm haltend, vor Hijikata auf die Knie. »Bitte, Hijikata-san, tun Sie ihm nichts! Der Fuchs ist mein Freund!«

»Dein Freund, soso …« Skeptisch zog Hijikata die Brauen hoch. »Wofür hältst du dich? Für einen Kitsune?«

Sōjirō blickte ein wenig verwirrt drein. »Es ist nur ein gewöhnlicher Fuchs …«, entgegnete er zögerlich, ohne auf die Spitze einzugehen. Behutsam strich seine Hand über den Kopf des Tierchens, das sich dabei sichtlich entspannte. »Ich habe ihn am Waldrand gefunden, bei der verlassenen Scheune. Er war ganz allein und er war verletzt und halb verhungert und … und da habe ich ihn mit nach Hause genommen. Kondō-sensei hat mir erlaubt, mich um ihn zu kümmern.« Und mit einem Anflug von trotzigem Stolz wiederholte er: »Der Fuchs ist mein Freund.«

Mein einziger Freund …, ergänzte der schmerzlich dunkle Glanz in seinen Augen, während er den Fuchs noch enger an sich presste, als fürchte er tatsächlich, Hijikata wolle ihm das Tier mit Gewalt entreißen.

Hijikata seufzte innerlich und wusste nicht, welche Tatsache ihn mehr verblüffte: Dass Kondōs kleiner Bruder ausgerechnet mit einem Fuchs befreundet sein wollte – oder dass diese seltsame Rede die längste war, die er je von Sōjirō gehört hatte.

Hijikata seufzte erneut, diesmal laut. Kondōs Bitte, freundlicher zu dem Jungen zu sein, hallte wie ein Glockenschlag in seinem Kopf wider, doch er musste zugeben, es war eine schwere Bürde, die der Freund ihm auferlegt hatte. Der Junge war so eigenartig …

»Wenn du dich nicht derart seltsam benehmen würdest, dann hättest du vielleicht auch richtige Freunde«, sagte Hijikata und dachte wieder daran, wie die anderen Schüler den Kleinen ausgrenzten und schikanierten.

Vermutlich war dies auch genau der Grund, aus dem Sōjirō sich so hartnäckig weigerte, mit ihnen gemeinsam zu trainieren.

Der Junge blinzelte verständnislos. »Ich benehme mich … seltsam? Was meinen Sie damit?« Wenn ihn die Worte verletzt hatten, dann zeigte er es nicht. Er blickte Hijikata nur aus seinen großen, unschuldigen Kinderaugen an, bis dieser unbehaglich das Gesicht abwenden musste.

»Nun ja«, begann er zögerlich. »Du könntest zum Beispiel damit anfangen, nicht immer so finster dreinzuschauen. Wenn du ab und an mal lächeln würdest, dann würden dich die anderen sicher lieber mögen.«

»Die anderen mögen mich, wenn ich … lächle?« Sōjirō legte den Kopf schräg und schien noch immer so fremd und fern, als wäre er nicht von dieser Welt.

Als wäre er selbst ein Fuchsgeist, dachte Hijikata schaudernd. Ein Kitsune.

Und was versuchte er da eigentlich gerade, dem Jungen einzureden? Mit einem Mal kam er sich unsagbar dumm vor.

Wenn du lächelst, dann akzeptiert man dich, wenn du dich nur anstrengst, dann mag man dich … Wusste er nicht selbst am besten, wie verlogen diese Worte waren? Wie es sich anfühlte, schikaniert und gepeinigt zu werden, ohne die Chance, sich dagegen wehren zu können?

 

»Du bist ein Dieb, ein nichtsnutziger, kleiner Dieb!«

»Ich bin kein Dieb … ich …«

»Leugne es nicht auch noch! Gib einfach zu, dass du das Geld genommen hast, du nichtsnutziger Bastard!«

»Wie kann ich etwas zugeben, das ich gar nicht getan habe?«

 

Wie Treibholz aus der aufgewühlten See zuckte die Erinnerung in Hijikatas Innerem empor. Er war elf Jahre alt gewesen, kaum älter als Sōjirō jetzt, als sein Bruder ihn nach Edo geschickt hatte, um bei einem angesehenen Kimono-Händler in die Lehre zu gehen. Die kurze Zeit, die er dort verbracht hatte, war die Hölle gewesen. Unablässig hatte einer der älteren Lehrjungen ihn getriezt, gequält und geschlagen, und der Inhaber des Ladens hatte schweigend dabei zugesehen.

Eines Nachts schließlich hatte Hijikata es nicht mehr ausgehalten und war davongelaufen, war die ganze Nacht über gelaufen, Stunde um Stunde, bis in sein Heimatdorf. Sein Bruder war sehr wütend gewesen auf ihn, aber in den Laden des Kimono-Händlers war er nie wieder zurückgekehrt.

Also warum erzählte er jetzt Sōjirō diesen Unsinn?  

Wie um seine Gedanken zu bestätigen, erklang ein tiefes Donnergrollen über ihm am Himmel. Der Wind frischte auf, und Hijikata spürte die ersten kalten Regentropfen auf der Haut.

Ohne den Älteren weiter zu beachten, drehte Sōjirō sich um und trat in sein Zimmer zurück. Der Fuchs lag mittlerweile ruhig und zufrieden in seinen Armen, und Sōjirō hielt ihn behutsam fest, hob das Buch, das er vorhin fallen gelassen hatte, vom Boden auf und räumte es ins Regal zurück.

Hijikata erhaschte einen flüchtigen Blick auf den Titel, und ein Lächeln huschte über seine Lippen. Es war eine illustrierte Ausgabe der Geschichte über die 47 Rōnin. Kondōs Lieblingslektüre, was zweifellos der Grund war, aus dem Sōjirō vorhin so eifrig darin gelesen hatte.

Mit einem Anflug widerwilliger Neugierde trat Hijikata näher, zögerte aber, Sōjirō in sein Zimmer zu folgen, sondern blieb unschlüssig im Türrahmen stehen.

Das Zimmer war winzig, nicht größer als eine Abstellkammer, und bot gerade genug Platz für einen Futon, das kleine Bücherregal, das bis auf einen zweiten Band völlig leer war, eine Truhe für die Kleidung des Jungen, und den hübsch verzierten Ständer an der Stirnseite des Zimmers, auf dem seine Schwerter ruhten.

Sōjirō hatte den Fuchs mittlerweile auf dem Boden abgesetzt und begann, ihn mit Stücken eines Reisbällchens zu füttern. Während das Tier gierig sein Futter verschlang, blieb Hijikatas Blick an den Schwertern hängen.

Daisho. Die Kombination aus dem langen Katana und dem etwas kürzeren Wakizashi, die zu tragen den Samurai vorbehalten war.

Die Seele des Samurai, sein Stolz und sein Privileg.

»Sind das deine Schwerter?«, fragte Hijikata in dem ungelenken Versuch, die Konversation aufrechtzuerhalten.

»Sie gehörten meinem Vater …« Sōjirō blickte nicht auf, war ganz auf seinen Fuchs konzentriert. Der kurze Ausbruch von Interesse schien vorüber, und er wirkte nun wieder abwesend und in sich gekehrt, als wäre über seinem Inneren eine Falltür zugeschlagen.

»Warum nimmst du nicht an Kondō-senseis Unterricht teil?«, erkundigte sich Hijikata, plötzlich wild entschlossen, die abweisende Fassade des Jungen zu durchbrechen.

Sōjirō versteifte sich, nur für einen Moment, doch deutlich erkennbar. Ein Schatten zuckte über sein Gesicht. »Ich will niemanden verletzen«, antwortete er tonlos, und seine Augen waren zwei tiefe Abgründe, in denen Hijikata sich zu verlieren drohte.

Er lachte schnaubend. »Die anderen Schüler sind alle älter, größer und stärker als du«, bemerkte er in bewusst herablassendem Tonfall, doch die Worte prallten an Sōjirō ab wie Regentropfen an Ölpapier.

»Ich will niemanden verletzen«, wiederholte er mechanisch und wandte sich wieder dem Fuchs zu.

Hijikata glaubte schon, das Gespräch sei damit endgültig versandet, als der Junge erneut aufblickte und ihn einen Moment lang so durchdringend anstarrte, als wolle er direkt in seine Seele schauen. »Sie sind Kondō-senseis Freund und Sie bewundern ihn«, bemerkte er ruhig. »Warum werden Sie kein offizielles Mitglied dieses Dōjōs? Warum schreiben Sie sich nicht im Shieikan ein?«

Etwas in Hijikatas Brust krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ja, warum schrieb er sich nicht im Dōjō ein? Schon lange übte er sich in der Fechtkunst, studierte verschiedene Stile und Techniken, trainierte sie und suchte sie heimlich zu vervollkommnen. Doch er gehörte keiner offiziellen Schule an.

Stattdessen zog er durch die Gegend und verkaufte die Arznei, die seine Familie selbst herstellte. Ishida-Pulver. Gut bei Knochenbrüchen, Prellungen und anderen Blessuren. In Wahrheit aber war die Arbeit als Verkäufer nur ein Vorwand, um fremde Dōjōs aufzusuchen, sie herauszufordern und dabei neue Techniken zu erlernen.

Was er sich eigentlich wünschte, war, ein Schwertkämpfer zu sein wie Kondō. Doch egal, wie sehr er sich anstrengte, er würde niemals so gut sein wie der Freund.  

Ich werde niemals ein Samurai sein, flüsterte die Stimme in seinem Inneren, von der er in diesem Moment sicher war, Sōjirō könne sie hören. Aber ich will genauso stark sein wie einer von ihnen. Nein, ich will stärker sein. Stärker als sie alle.

Hijikata ballte die Hand zur Faust und presste die Kiefer aufeinander, damit der Junge nicht bemerkte, wie sehr seine Frage ins Schwarze getroffen hatte. Und mit einem Mal wurde ihm klar, warum er dieses Kind so sehr ablehnte. Sōjirō war mit seinen neun Jahren gerade mal halb so alt wie er selbst, und doch blickten seine Augen tiefer als die der meisten Erwachsenen, und er sah Dinge, die Hijikata lieber verborgen gehalten hätte.

Plötzlich erkannte er auch, was Kondō in dem Jungen sah. Mit dieser Fähigkeit, seinem Gegenüber direkt ins Herz zu blicken, an seine intimsten Gedanken zu rühren, noch bevor sie diesem selbst bewusst waren, konnte er in der Tat einmal der beste Schwertkämpfer in ganz Edo werden. Denn ein Kämpfer, der den Gegner durchschaute, war unbesiegbar.

Mit einiger Verspätung antwortete er ausweichend: »Ich will meinen eigenen Weg gehen.«

Sōjirōs Blick bohrte sich in den seinen, hielt ihn fest wie ein Raubtier seine Beute. »Genau das will ich auch.« Ein Hauch von Trotz hatte sich in seine Stimme geschlichen, und aus irgendeinem Grund ließ dies eine unbeherrschbare Woge von Zorn in Hijikata aufwallen: »Und worin besteht dieser Weg?«, zischte er scharf. »Zu putzen und Wäsche zu waschen und dich von den anderen Schülern prügeln zu lassen wie ein Hund?«

Sōjirō erstarrte. Sein Gesicht wurde bleich. Der Fuchs hörte auf zu fressen und knurrte drohend in Hijikatas Richtung.

Hijikata war zu weit gegangen. Aber er fand keine Worte, um wiedergutzumachen, was eben geschehen war.

Es war Kondō, der die Situation rettete.

»Hey, ihr beiden!«, rief er fröhlich, vom Garten aus auf die Veranda tretend. Und mit einem Lachen fügte er, an Sōjirō gewandt, hinzu: »Dieses Reisbällchen da war eigentlich für dich gedacht, Sōji, nicht für den Fuchs! Aber ich glaube, in der Küche sind noch ein paar Süßigkeiten. Die magst du doch so gern.« Kondō zwinkerte verschmitzt. »Aber lass dich nicht von Mutter erwischen. Und vor allem: Pass auf, dass niemand den Fuchs im Haus sieht! Mutter würde dieses Haustier gewiss nicht billigen.«

»Jawohl.« Sōjirō verneigte sich steif, nahm den zappelnden Fuchs auf den Arm und beeilte sich, das Zimmer zu verlassen, nicht ohne Hijikata einen frostigen Blick zuzuwerfen.

»Was war denn hier los?«, fragte Kondō seinen Freund besorgt. »Habt ihr euch schon wieder gezankt?«

Hijikata antwortete nicht.